Die Provinz Lüttich erinnert sich an

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5. Unsere eroberte Freiheit - Zwischen den Zeilen

Zwischen den Zeilen
partager sur Twitter partager sur Facebook   Publié le 22-09-2020

5. Unsere eroberte Freiheit

Eine Erklärung

Wir schreiben das Jahr 1948. Seit mehr als zehn Jahren sammelt Jean Boets Presseauszüge, um die Geschichte seiner Zeit zu erzählen. Das 37. Notizbuch wird das letzte in einem Werk der Geduld, Aufmerksamkeit und Überlegung sein, in dem jeder Presseartikel, jede Illustration, jede Karte, jeder Kommentar, jeder Titel oder Untertitel am richtigen Platz ist. Auf den letzten Seiten dieses Notizbuches lädt uns ein Auszug dazu ein, den Text von Fernand Dehousse zu lesen (Vater von Jean-Maurice), der damals 42 Jahre alt und ein großer Verfechter des Aufbaus Europas war. Der Artikel ist auf Sonntag, den 12. Dezember 1948, datiert, als gerade die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte verabschiedet wurde.
Hier ist Folgendes zu lesen (freie Übersetzung): „Sind wir Zeuge (...) eines HISTORISCHEN EREIGNISSES geworden? (...) Wenn ich so darüber nachdenke, wäre es jedoch wichtig zu verstehen, was genau mit einem HISTORISCHEN EREIGNIS gemeint ist. Handelt es sich um eine Tatsache, die sich zum ersten Mal in der Geschichte der Menschheit ereignet, oder um ein Ereignis, das wahrscheinlich einen tiefgreifenden Einfluss auf das Schicksal der Menschheit haben wird? Ich tendiere dazu, in diesem Fall der ersten Interpretation zuzustimmen. Ich habe hingegen meine Zweifel an der Möglichkeit, die zweite für die Erklärung der Menschenrechte zu berücksichtigen. (...) Lasst uns nicht zu schnell schlussfolgern, dass die Erklärung (...) NICHTS NÜTZT. In Wirklichkeit bildet sie im Denken derer, die sie vorbereitet haben (...), den ersten Teil eines Dreieckskonzepts. Dieser müssen eine oder mehrere Konventionen (also echte Abkommen) und der Aufbau eines Systems folgen, das ihre effektive Durchführung gewährleistet. So weit sind wir zwar noch nicht, aber diese Perspektive darf nicht aus den Augen verloren werden.“

Wie sieht es fast 75 Jahre später diesbezüglich aus?

Man sollte sich die Menschenrechte nicht als eine zeitlose Kategorie vorstellen. Sie entstanden als Folge einer langsamen Reifung des politischen und philosophischen Denkens. Sie wurden 1789 feierlich durch die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte proklamiert und nach und nach in Texte gefasst. Sie haben sich aber auch in der Denkweise und den sozialen Praktiken verankert. Diese Umsetzung ging einher mit der Einrichtung und Festigung der demokratischen Regime. Sie bleibt jedoch zerbrechlich und unvollständig, wie die Rückkehr der Diktaturen, totalitäre Regime und die Gräueltaten des Zweiten Weltkriegs in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts gezeigt haben.

Eine optimistische Sicht darauf ist aber auch möglich. Nennenswert sind hier die Universalisierung des Anspruchs auf Menschenrechte, die schrittweise Ausweitung der anerkannten Rechte, die Verkündung der Unteilbarkeit der bürgerlichen, politischen, wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte, die Aufnahme von Rechten und Freiheiten in das positive Recht, begleitet von der Entwicklung von Überwachungsmechanismen, die die Verletzung dieser Rechte und Freiheiten bestrafen sollen, dem Verbot von Kolonisierung (auch wenn sie bei weitem noch nicht vollständig beseitigt ist), von Apartheid, Rassismus usw. Man muss zwangsläufig feststellen, dass die fast universelle Annahme des Prinzips der Menschenrechte, welches unter den Schutz der internationalen Gemeinschaft gestellt wird, keine Garantie gegen die Verletzungen ist, die weiterhin gegen diese Rechte begangen werden.

Die Menschenrechte haben eine Geschichte, und diese Geschichte wird jeden Tag weiter geschrieben, so brillant und intelligent wie es Jean Boets getan hat.

Das humanitäre Völkerrecht konnte Kriege zwar nicht auslöschen, aber es hat versucht, sie zu zivilisieren. Das 1946 in Nürnberg geborene Völkerstrafrecht versucht, der Immunität vor Strafverfolgung für Verbrechen, die in ihrer Art und ihrem Ausmaß die gesamte Menschheit betreffen, ein Ende zu setzen. Die Globalisierung und die Erkenntnis unserer Verantwortung gegenüber künftigen Generationen zwingen uns, über neue Rechte nachzudenken, wie das Umwelt- oder Mobilitätsrecht, die für die Staaten gemeinsame und korrelative Verpflichtungen mit sich bringen.

Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte von 1948 markierte einen Meilenstein in der Geschichte der Menschenrechte, indem sie diese unter den Schutz der internationalen Gemeinschaft stellte.

Dennoch warten viele immer noch darauf, dass die so feierlich verkündeten Rechte Wirklichkeit werden. Das ist das Schicksal all jener auf diesem Planeten, die nicht das Glück hatten, in freien Ländern ohne Terror und Elend geboren worden zu sein, all jener, die unter dem Einfluss von religiösem Extremismus leiden oder verfolgten Minderheiten angehören. Der Zweite Weltkrieg macht dies sehr deutlich.

Aber selbst dort, wo die Menschenrechtssituation allgemein akzeptabel ist, kann man nur schwer von einem Sieg sprechen. So ist zum Beispiel die Armut, die man für „ausgerottet“ hielt, in den reichsten Ländern wieder aufgetaucht und hat neue Formen der Ausgrenzung mit sich gebracht.

Das Versprechen der Menschenrechte darf nicht als Illusion betrachtet werden. Im Gegenteil: Wir sollten weiter darum kämpfen, dass sie zur Wirklichkeit werden. Dieser Kampf scheint jedoch endlos, da sein Bereich sich ständig erweitert. Die Mentalitäten müssen sich ändern, damit die Gleichberechtigung der Frauen endlich wirksam werden kann. Der unerträgliche Egoismus derjenigen, die den Genuss und die Vorteile des Fortschritts an sich reißen wollen, indem sie Stacheldrahtzäune um ihre Grenzen errichten und andere ins Elend und die Herrschaft von Tyrannen stürzen, muss beendet werden. Um im Geist einer universellen Gemeinschaft handeln zu können, müssen wir zuerst den Zustand und die Dynamik der Rechte verstehen. Nur wenn wir offen für das Wissen und den Fortschritt sind, dass diesen Rechten inne liegt, werden wir ihren Fortbestand sichern können.

Vieles hiervon hat Jean Boets uns anhand dieser hunderten von sorgfältig ausgewählten und angeordneten Auszügen übermittelt. Auf diese Weise hat er uns die Erinnerung an eine nicht so lange zurückliegende Zeit überliefert.

Eine Institution

Die Charta der Vereinten Nationen wird am 26. Juni 1945 in San Francisco zum Abschluss der Konferenz der Vereinten Nationen für die Internationale Organisation unterzeichnet und tritt am 24. Oktober 1945 in Kraft. Das Statut des Internationalen Gerichtshofs ist ein integraler Bestandteil dieser Charta. Sie enthält zahlreiche Verweise auf die Menschenrechte und erinnert an den Glauben der Unterzeichnerstaaten „an die grundlegenden Menschenrechte, an die Würde und den Wert der menschlichen Person, an die Gleichberechtigung von Mann und Frau“.

Das 20. Jahrhundert, das mit dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs beginnt und mit dem Fall der Berliner Mauer endet, ist jedoch nicht verantwortlich für die „Erfindung“ der Internationalen Organisation. Einerseits entstammen die Projekte zur Institutionalisierung der internationalen Beziehungen einem weit zurückreichenden Ideenstrom, der bis zu den Haager Friedenskonferenzen von 1899 und 1907 zurückreicht. Auf der anderen Seite begann die Ära der zwischenstaatlichen Organisationen im 19. Jahrhundert mit den zeitweiligen Interventionen der Pentarchie (1896-1914) sowie mit den regelmäßigen Aktivitäten der Stromkommissionen und der internationalen Verbände.

Dennoch können dem 20. Jahrhundert diesbezüglich vier Hauptbeiträge zugeschrieben werden. Der erste Beitrag ist von entscheidender Wichtigkeit und wird durch die Gründung des Völkerbunds (League of Nations) und der Vereinten Nationen (UNO) veranschaulicht: das Aufkommen einer „Weltorganisation“, d. h. einer Einheit mit einer universellen Berufung und einem globalen Mandat im Bereich der kollektiven Sicherheit und der fachspezifischen Zusammenarbeit, die der Aktivitäten einer Reihe von fachspezifischen Organisationen übergeordnet ist. Das Phänomen des „Regionalismus“ stellt den zweiten Beitrag dar. Er wird veranschaulicht durch die Entwicklung subregionaler, regionaler und transregionaler Organisationen, die mehr oder weniger flexibel und häufig mit dem von der Weltorganisation gebildeten systemischen Ganzen zusammenarbeiten. In Zusammenhang mit dem „Übernationalen“ besteht der dritte Beitrag in der Entstehung eines besonders fortschrittlichen Organisationstyps, der als „Integration“ bezeichnet wird. Der vierte Beitrag ist der Transnationalismus, die präzedenzlose Ausdehnung der Schnittstelle zwischen den nationalen Bürgergesellschaften und den zwischenstaatlichen Organisationen.

Anders als der Völkerbund werden die Vereinten Nationen frei von politischen Bedingungen, die besiegten Ländern auferlegt werden, aufgebaut. Ihnen werden auch keine Befugnisse für die Umsetzung von Friedensverträgen zugeteilt. Darüber hinaus verfügt die UNO über einen umfassenderen und kohärenteren Rahmen für kollektive Sicherheit als der Völkerbund: Die Charta verbietet jegliche Anwendung (oder Androhung) von Gewalt in internationalen Beziehungen, mit Ausnahme von Selbstverteidigung und kollektiv beschlossenen Aktionen der UNO als Reaktion auf einen Angriff.

Die Vereinten Nationen werden zunächst von den Großmächten dominiert und durch deren Auseinandersetzungen bald zu einem geschlossenen Raum für den Kalten Krieg. Anschließend entwickeln sie sich weiter. Die Geschichte der Vereinten Nationen ist gewissermaßen die Geschichte ihrer Eroberung durch kleine und mittlere Mächte, zum Nachteil ihrer Hauptgründer.

Trotz der Unfähigkeit der Vereinten Nationen, die Probleme der internationalen Gesellschaft zu lösen, bleiben die Charta und ihre Grundsätze ein wesentliches Instrument der internationalen Beziehungen. Selbst unvollkommen hat sich die Organisation an die sich verändernden internationalen Probleme angepasst. Sie hat ihre Existenz aufrechterhalten, an ihren Prinzipien festgehalten, ihre Universalität weiterentwickelt – entgegen aller Wiederstände.

Eine Zeuge des 20. Jahrhunderts

Wir schreiben den 2. August 1939. Albert Einstein, der Vater der Relativitätstheorie und Nobelpreisträger für Physik im Jahr 1921, unterzeichnet einen Brief, den er an den amerikanischen Präsidenten Franklin Roosevelt richtet. Noch nie zuvor in der Geschichte der Menschheit hat ein einziger Brief so große Auswirkungen gehabt.

„Im Verlauf der letzten vier Monate ist es – dank der Arbeiten von Joliot in Frankreich und Fermi und Szilard in Amerika – möglich geworden, vermittels einer großen Menge Uran eine nukleare Kettenreaktion zu erschaffen. (...) Es ist denkbar, dass dadurch extrem starke Bomben eines neuen Typs gebaut werden könnten.“

In seinem Brief scheint Einstein besorgt darüber zu sein, dass das von ihm verabscheute nationalsozialistische Deutschland, vor dem er 1933 in die Vereinigten Staaten geflohen ist, im Begriff sein könnte, sich mit einer solchen Macht auszurüsten. Er erläutert: „Soviel ich weiß, hat Deutschland den Verkauf von Uran aus den tschechoslowakischen Bergwerken, die es übernommen hat, tatsächlich eingestellt.“

Präsident Roosevelt antwortet mit einem kurzen, aber eindringlichen Brief am 19. Oktober 1939, in dem er zu verstehen gibt, dass er die Botschaft eindeutig verstanden hat: „Ich fand diese Informationen so wichtig, dass ich einen Ausschuss einberufen habe, (...) um die Möglichkeiten Ihres Vorschlags bezüglich des Elements Uran gründlich zu überprüfen.“ Die
Folgen sind bekannt ...

Im Januar 1942 gibt das Oberhaupt des Weißen Hauses seine Zustimmung zur Herstellung einer Atombombe. Das Projekt Manhattan, das von New York aus gesteuert wird, wird einige Monate später mit General Leslie Groves an seiner Spitze offiziell bestätigt. Er legt den Standort des zukünftigen Labors fest, in dem die Bombe entworfen und gebaut werden soll: an einem abgelegenen Ort im Norden New Mexicos, auf einem Hochplateau, auf dem sich nur eine Schule befand. Er ernennt den Physiker Robert Oppenheimer zum wissenschaftlichen Leiter. Er umgibt sich mit den besten Spezialisten, Einstein ausgeschlossen, denn dieser steht wegen seines starken Pazifismus während des Ersten Weltkriegs unter dem Verdacht von J. Edgar Hoovers FBI.

Am 16. Juli 1945 findet in der Wüste von Alamogordo ein erster Versuch statt, unter den staunenden Augen der Physiker und Mathematiker, die diesen riesigen „Pilz“ erschaffen haben. Ende Juli 1945 gibt Präsident Harry Truman, der im April die Nachfolge des verstorbenen Roosevelt angetreten hat und im darauf folgenden Monat mit General Groves über das Projekt Manhattan diskutierten wird, sein grünes Licht für den Abwurf von Atombomben auf Japan, sobald das Wetter es erlaubt. Die Menschheit tritt in das Atomzeitalter ein.

Albert Einstein hat an diesen Arbeiten nie teilgenommen. Und wahrscheinlich hätte er diesen Brief an Roosevelt nie geschrieben, wenn sein Freund, der ungarische Kernphysiker Leo Szilard, ihn nicht im Sommer 1939 in Nassau Point auf Long Island aufgesucht hätte.

Wir schreiben den 4. November 1945. Fast auf den Tag genau ein Jahr nach ihrer Gründung, im Zuge der Libération, gewinnt die Tageszeitung France-Soir einen angesehenen freien Journalisten für sich. Auf der Titelseite veröffentlicht die Zeitung von Pierre Lazareff einen Artikel von Professor Einstein. Die Schlagzeile, die sich über die gesamte Breite der ersten Seite erstreckt, behauptet, dass „2/3 des Globus durch die Atombombe ausgelöscht werden können“, wie Albert Einstein in seinem langen Artikel anmerkt. Für ihn gibt es nur eine Rettung: „das Geheimnis einer Weltregierung anzuvertrauen“. Am nächsten Tag veröffentlichen auch die belgischen Tageszeitungen den Artikel und Jean Boets nimmt ihn in seine Notizbücher auf.
Einstein ist 66 Jahre alt, als er diesen Artikel schreibt. Es sind drei Monate vergangen, seit die Atom-energie Hiroshima und Nagasaki trafen. Er beteuert, dass „die Freisetzung von Atomenergie kein neues Problem darstellt. Sie mache es einfach dringender, ein bereits bekanntes Problem zu lösen.“ Denn ob Atombombe oder nicht, „solange souveräne Nationen über große Macht verfügen, ist Krieg unvermeidlich (...). Was sich geändert hat, ist die Zerstörungskraft des Krieges.“ Er macht einen revolutionären Vorschlag: „Ich glaube nicht, dass das Geheimnis der Bombe an die Organisation der Vereinten Nationen weitergegeben werden sollte. Ich glaube nicht, dass es der Sowjetunion gegeben werden sollte. (...) Das Geheimnis der Bombe muss einer Weltregierung anvertraut werden (...). Eine solche Regierung muss von den Vereinigten Staaten, der Sowjetunion und Großbritannien gegründet werden, den einzigen drei Großmächten mit großer militärischer Stärke. (...) Wir müssen diesem Konzept der Nichteinmischung ein Ende setzen, denn die Beendigung dieses Konzepts ist eine der Voraussetzungen für den Erhalt des Friedens.“

Es wird Jahrzehnte dauern, bis die UNO gegen das Prinzip der Nichteinmischung in innere Angelegenheiten eines Landes verstößt.

Kurz vor seinem Tod am 18. April 1955 unterzeichnet Einstein zusammen mit anderen Nobelpreisträgern das Russell-Einstein-Manifest, in dem die Großmächte aufgefordert werden, friedliche Lösungen für internationale Konflikte zu suchen. Das Schuldgefühl, zur Herstellung der Atombombe beigetragen zu haben, verfolgt ihn bis an sein Lebensende. Bis zu seinem letzten Atemzug bedauert er es, seinen berühmten Brief an Roosevelt geschickt zu haben: „Ich habe einen großen Fehler in meinem Leben gemacht, als ich diesen Brief unterschrieben habe.“

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1. Zwischen den Zeilen
Auszüge aus den Notizbüchern von Jean Boets
2. Zwischen den Zeilen
 Symbolik der Menschenrechte
Martin Luther King, 31. März 1968
Zeichnung von Plantu in „Quelle connerie la guerre!“, Paris 2016
3. Zwischen den Zeilen
Globale Sicherheitscharta
Unterzeichnung der Charta der Vereinten Nationen in Frisco, 1945
4. Zwischen den Zeilen
Angst vor der Atombombe
 Einsteins Warnung vor der zerstörerischen Kraft der Bombe
5. Zwischen den Zeilen
Darstellung von Einstein und der Atombombe
Auszüge aus den Notizbüchern von Jean Boets